Theologisches Basiswissen zur Homosexualität

In diesem Text versuche ich, meine derzeitigen Einsichten zu bündeln. Ich trage zusammen, was aus meiner Sicht zum grundlegenden Wissensbestand gehören sollte, wenn man sich fundiert aus theologischer Perspektive zur Homosexualität äußern will. Außerdem versuche ich zu zeigen, warum die Ablehnung homosexueller Menschen in christlichen Gemeinden mindestens auf sehr wackligen Beinen steht.

Der Text wird laufend aktualisiert und an meine persönlichen Einsichten (insbesondere aus der Diskussion mit anderen) und ggf. neue Literatur angepasst. Er wurde zuletzt aktualisiert am 11. November 2022. Ich freue mich über (auch kritische!) Kommentare. Allerdings werde ich nur sachliche und sachdienliche Beiträge veröffentlichen. Für gut begründeten Widerspruch bin ich immer offen.

Ich komme gern in Ihre Gemeinde, um den Vortrag zu halten und um Rede und Antwort zu stehen. Nehmen Sie bitte einfach Kontakt auf. Der Text dieser Seite ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

CC BY 4.0

1       Einführung

Zur Klärung gleich vorneweg: Meine Position ist die eines (evangelischen, freikirchlichen) Christen der dafür einsteht, dass homosexuelle Geschwister ihren vollwertigen Platz in der Gemeinde finden. Denn ich glaube, dass bei Gott für alle Menschen Platz ist, unabhängig von ihrer Sexualität. Ich denke außerdem, dass eigentlich die Ausgrenzung von homosexuellen Menschen aus (Bereichen) der Gemeinde begründet werden sollte, nicht die Teilhabe. Dennoch ist mir der geschichtliche Hintergrund insbesondere meiner eigenen Tradition bewusst, daher möchte ich erste theologische Schritte auf einem Weg zur Öffnung aufzeigen.

Wenn Sie dem Thema im Moment eher ablehnend gegenüberstehen, wird Sie dieser Text sicher nicht von jetzt auf gleich vom Gegenteil überzeugen. Der Weg hin zu einer offenen Haltung braucht oft viel Zeit. Ich werde aber versuchen, Ihnen einige Hintergründe einer offenen Haltung in groben Zügen näherzubringen. Damit möchte ich vor allem zeigen, dass man es sich mit der Frage nach Homosexualität und Christsein nicht zu leicht machen kann. Denn es gibt am Ende nicht die eindeutige Lösung, weder in die eine Richtung, noch in die andere. Es bleiben auf beiden Seiten offene Fragen, die sich nicht eindeutig beantworten lassen. Am Ende muss man im Licht der göttlichen Liebe eigenverantwortlich entscheiden, ob man homosexuellen Menschen in der Gemeinde Raum geben möchte oder nicht. 

Ich selbst hatte nicht immer eine offene Haltung – das tut mir heute leid, weil ich dadurch Menschen verletzt und ausgegrenzt habe. Die Beschäftigung mit der Bibel, mit der Theologie und mit den oft leidvollen Geschichten homosexueller Christinnen und Christen haben allmählich Veränderungen ausgelöst, für die ich heute sehr dankbar bin. 

Gerade die Begegnung mit homosexuellen Menschen und ihren Geschichten ist durch nichts zu ersetzen. Denn wir reden nicht einfach über ein Thema, sondern immer über konkrete Personen. Wir reden zudem über einen sehr sensiblen Teil ihrer Persönlichkeit. Stellen Sie sich nur einmal für einen kurzen Moment vor, Ihre Gemeinde würde eine Mitgliederversammlung einberufen, um über ihr Liebesleben zu sprechen … Genau das passiert gerade, denn Homosexualität gibt es nur als homosexuelle Prägung oder Lebensweise von konkreten Menschen. Dazu gehören häufig verletzende, demütigende und diskriminierende Erfahrungen – auch in Gemeinden wie unseren. Denken Sie das bitte immer mit!

2       „Unsere Welt“

2.1      Gesellschaft

Homosexualität ist gesellschaftlich und kirchlich wieder viel diskutiert. Gerade in den vergangenen Wochen hat eine große Aktion in der Katholischen Kirche für Aufsehen gesorgt, in der sich mehr als Hundert homosexuelle Menschen in Diensten der Kirche öffentlich geoutet haben, um für ihren Platz in der Kirche einzustehen (https://outinchurch.de). Das und die große Welle der Solidarität über die Konfessionsgrenzen hinweg zeigt, dass hier schon lange Veränderungen in Gang sind. 

Exkurs: Freie evangelische Gemeinden

Die Erweiterte Bundesleitung des Bundes FeG hat im Dezember 2018 eine sogenannte Orientierungshilfe zur Homosexualität veröffentlicht. Diese löst das ursprüngliche Papier von 2004 ab und das macht doch hellhörig – denn wenn alles ein für alle Mal feststünde, wäre so eine Aktualisierung ja nicht nötig. Es wurde im März 2019 auf öffentlichen Druck hin noch einmal überarbeitet herausgegeben. Die ursprüngliche Version konnte so gelesen werden, dass zu einer sog. Konversionstherapie geraten oder sie zumindest nicht ausgeschlossen wurde. Kurz darauf hatte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein Verbot solcher Therapien auf den Weg gebracht. (Zur Kontroverse und Einordnung vgl. etwa https://www.pro-medienmagazin.de)

Die Stellungnahme hat hohe Wellen geschlagen und ist letztlich ein Auslöser dafür, dass sich viele Gemeinden mit dem Thema beschäftigen und ihren je eigenen Weg suchen. Es gibt Gemeinden, die eine strikt ablehnende Haltung gegenüber gelebter Homosexualität leben und lehren, und es gibt immer mehr andere, die eine offene Haltung inklusive Segnung homosexueller Paare leben. Beides ist „FeG“.

Dazu ist wichtig zu wissen: Dieses Papier dient den Ortsgemeinden als Diskussionsgrundlage. Aufgrund der Selbständigkeit der Gemeinde (s. Präambel der FeG-Verfassung) hat es keinen verbindlichen Status. Es spiegelt die Ansicht der Erweiterten Bundesleitung wider, legt die Ortsgemeinden aber nicht auf etwas fest. Unser Kirchen- und Gemeindeverständnis als Bund Freier evangelischer Gemeinden baut darauf, dass theologische Fragen immer wieder gemeinsam diskutiert werden. „FeG-Theologie“ ergibt sich immer aus dem, was in den einzelnen Ortsgemeinden geglaubt, gelehrt und gelebt wird. Verlautbarungen von offizieller Stelle können und sollen den Diskurs prägen, sollen und können Positionen aber nicht vorzeichnen. Vgl. dazu den vorzüglichen Artikel zum kongregationalistischen Kirchenverständnis bei Ralf Dziewas, Verbindlichkeit im Kongregationalismus, in: Hailer, Martin / Hafner, Johann Evangelist (Hg.): Binnendifferenzierung und Verbindlichkeit in den Konfessionen, Frankfurt a.M. 2010 [Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 87], 243–265: „Die Normalität verändert sich, die Ausnahme wird irgendwann zur Alternative, dann zur neuen Normalität. Doch der Weg dahin ist lang und die Versuchung ist groß, entweder vorher das Prinzip der Freiheit und FreiwiIligkeit zu opfern, um klare einheitliche Regeln und größtmögliche Geschlossenheit zu erreichen, oder aber das Prinzip der Einheit und Einmütigkeit über Bord zu werfen, um sich die Zeit des Ringens um Kompromisse und gegenseitiges Verständnis zu ersparen.“ (https://www.th-elstal.de/)

Gesellschaft verändert sich, und Gemeinde verändert sich mit ihr. Das war schon zu biblischen Zeiten so. Der Glaube an den einen Gott musste sich immer unter veränderten Bedingungen bewähren und dazu auch immer wieder verändern: Aus der Gefangenschaft in die Freiheit (Exodus), vom Wüstenvolk zum Tempelvolk (Landnahme), vom Tempelvolk zu einem Volk der Tora (nach 70. nChr). 

Das allein ist aber natürlich keine Begründung, eine möglicherweise gewohnte Position zu verändern. Aber es zeigt: Glaube kann, darf und muss sich manchmal ändern. Ich sage meinen Kindern gern: Es gibt nichts Mutigeres, als seine Meinung zu ändern. Sogar Gott bringt diesen Mut in den biblischen Geschichten immer wieder auf (vgl. z. B. das Jonabuch).

Wenn ich nun einige Hintergründe einer offenen Haltung vorstelle, wähle ich bewusst aus und verkürze. Manches wird daher nicht sofort nachvollziehbar sein und wird Sie womöglich irritieren, anderes werden Sie vielleicht vermissen. Verstehen Sie meinen Vortrag bitte als eine erste Anregung, sich selbst mit den Themen zu beschäftigen.

2.2      Zum historischen Hintergrund

Zunächst muss man festhalten, dass es Homosexualität eigentlich erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt. Der Begriff taucht erst 1868 zum ersten Mal auf (https://de.wikipedia.org). Besonders die heutige Überzeugung, dass Homosexualität nicht bloß ein Verhalten meint, sondern einen wichtigen Teil der eigenen Identität (sexuelle Orientierung), gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert.

Homosexualität als angelegte und gewissermaßen angeborene, natürliche Orientierung ist der Antike unbekannt. Es ist also auch der Welt und Zeit der Bibel unbekannt. Zwar gibt es vereinzelte Berichte über (auch langjährige und in gewisser Hinsicht gleichberechtigte) Partnerschaften, aber solche Ausnahmen bestätigen eher die Regel. Bei den Erwähnungen muss man zudem mit einigen historischen Unsicherheiten rechnen. Die Welt der Bibel kennt Homosexualität nur als homosexuelle Handlung von Menschen, die von ihrer Natur her aber heterosexuell sind. 

Das hat verschiedene Gründe. Wir müssen uns für den Kulturraum der Bibel eine Gesellschaft vorstellen, die in vielerlei Hinsicht völlig anders auf Nachkommenschaft angewiesen ist als unsere moderne, arbeitsteilige Gesellschaft im Sozialstaat. Heute kann man relativ gut alleinstehend überleben, das ist in der Antike anders. Deshalb haben klar geordnete Verhältnisse der Geschlechter und innerhalb der Großfamilie einen sehr viel höheren Stellenwert. Die tragischen Geschichten von Kinderlosigkeit in der Bibel deuten das an.

Außerdem hängt Sexualität in der Antike immer mit einem sozialen Machtgefälle zusammen: Der passive Part im Geschlechtsakt, also im heterosexuellen Fall die Frau, ist nach antikem Verständnis in seiner gesellschaftlichen Stellung abgewertet. Dieses Verständnis von einem Machtgefälle ist auch für die Bibelstellen wichtig. 

Diese Ansicht teilen wir als Gesellschaft heute nicht mehr, unser Grundgesetz stellt in Artikel 3 eigentlich indiskutabel klar:  

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

https://www.gesetze-im-internet.de/

Das gilt für die Welt der Bibel nicht. Sie ist patriarchal geordnet, das heißt, der Mann steht sozial und rechtlich über der Frau. Die Sexualität ist für die Welt der Bibel ein Abbild dieser Überordnung des Mannes, man kann Sexualität und gesellschaftliche Rolle nicht voneinander trennen. 

Allerdings deuten einzelne biblische Texte bereits Veränderungen an, wenn Epheser 5 etwa von der gegenseitigen Unterordnung spricht. Das ist für die damalige Zeit ungewöhnlich modern und zeigt, dass vertraute Ansichten sich im Licht des Evangeliums verschieben und verändern können. Man könnte ebenso auf die Schöpfungserzählung verweisen, die mit den Geschlechterrollen spielt, wenn sie erzählt:

Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.

Genesis 2,24

Die antiken Verhältnisse sind eigentlich genau umgekehrt: Nicht der Mann verlässt seine Familie, sondern immer die Frau. Die Urgeschichte durchbricht hier feinsinnig die vermeintlich klaren Rollen, die zudem in Genesis 3 nicht als „Schöpfungsordnung“ verstanden sind, sondern ausdrücklich als Fluch. (Vgl. dazu den Exkurs weiter unten.)

Es ist wichtig zu sehen: Die kulturellen Voraussetzungen sind heute nicht mehr dieselben wie zu Zeiten der Bibel. Die biblischen Texte bewegen sich weitestgehend im damaligen gesellschaftlichen Mainstream, öffnen sich aber immer wieder für Ausnahmen, Alternativen und Veränderung. Dennoch bleiben die patriarchalen Voraussetzungen in der Bibel klar. Wo sich allerdings Voraussetzungen geändert haben, müssen wir daher auch Einzelaussagen und Schlussfolgerungen neu bewerten. Das gilt ebenso für andere Themen, die wir heute mit guten Gründen anders sehen als die Bibel. Hier sei beispielhaft nur an Todesstrafe oder Sklaverei erinnert. Veränderung ist möglich, auch und gerade mit der Bibel.

2.3      Medizinisch

Es gibt weitere Veränderungen, die wir beachten müssen. Seit 1990 gilt Homosexualität nicht mehr als Krankheit. Das ist wichtig zu erwähnen, damit wir verstehen, warum der Umgang mit Homosexualität nicht selten auch eine Frage der Generationen ist: Wer damit aufgewachsen ist, Homosexualität als Krankheit zu verstehen, wird anders an die Fragen herangehen als jemand, der ohne dieses Vorurteil aufgewachsen ist.

Dasselbe gilt im Übrigen für die Kriminalisierung: Seit 1994 taucht Homosexualität nicht mehr als Straftat im deutschen Recht auf, auch wenn sie schon seit Ende der 1950er Jahre nicht mehr strafrechtlich verfolgt wurde.

Seit 2017 ist in Deutschland die gleichgeschlechtliche Ehe möglich. Eine vollständige Gleichstellung von hetero- und homosexuellen Ehepaaren ist aber noch nicht gegeben (etwa im Adoptionsrecht). Wie die medizinische Einordnung spielt auch dieser Umstand eine Rolle in der persönlichen Bewertung der Homosexualität. Wenn es mein Leben lang verboten war, denke ich anders darüber, als wenn ich in einer Gesellschaft aufwachse, die die Gleichstellung mehrheitlich befürwortet und staatlich fördert.

Warum ein Mensch homosexuell ist oder nicht, ist nicht eindeutig geklärt. Man geht heute davon aus, dass sich Homosexualität (wie Heterosexualität und Sexualität überhaupt) in einem vielschichtigen Zusammenspiel aus genetischen Anlagen, Gehirnstrukturen, psychologischen Einflüssen und sozialen Faktoren entwickelt. (Vgl. zur verständlichen Einführung https://www.quarks.de sowie die weiterführende Literatur dort.) Homosexualität ist so komplex, dass man jedenfalls nicht sagen kann, dass Menschen in dieser Hinsicht eine Wahl hätten. Menschen entdecken eine vorhandene sexuelle Identität und Orientierung, normalerweise in der Pubertät. Die Fachwelt ist sich daher praktisch einig, dass Homosexualität eine individuelle, natürliche Veranlagung ist. Der Versuch einer Veränderung der Homosexualität („Konversionstherapie“) kann deshalb zu gravierenden gesundheitlichen Schäden führen, bis hin zur Suizidgefahr, und ist daher folgerichtig mittlerweile verboten, zumindest für Jugendliche unter 18 Jahren.

Im Blick auf den prozentualen Anteil homosexueller Menschen an der Gesamtbevölkerung schwanken die Angaben zwischen 1% und 10%. In eine Studie unter christlichen Singles gaben 3,1% an, homosexuell zu sein, weitere 3,3% verstanden sich als bisexuell (Faix/Künkler/Weddigen 2020). Nun könnte man sagen: Warum macht man aus so einer kleinen Minderheit ein so großes Thema? Ich will es mal theologisch sagen: Weil unser Gott immer ein Gott der Minderheiten war, ist und sein wird!

Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –  sondern weil er euch geliebt hat. 

Deuteronomium 7,7–8

Der Gott der Bibel ist ein Gott, der für die Minderheiten um einen Platz in der Weltgeschichte ringt. Deswegen sollte auch seine Gemeinde eine sein, die einen Platz für die Minderheiten hat.

3        Die Welt der Bibel

3.1      Zur Grundlage

Wir müssten eigentlich darüber sprechen, wie wir die Bibel verstehen. Das müssen wir leider überspringen, weil es zu weit führen würde. Daher nur ein kleiner Hinweis: Jesus selbst konnte sich zugunsten der Menschen über den vermeintlichen Wortlaut der Schrift hinwegsetzen. Sein Anliegen war immer, den Menschen im Licht Gottes gerecht zu werden. Beispielhaft dafür steht die bekannte Aussage, dass der Mensch nicht für den Schabbat da ist, sondern umgekehrt (Markus 2,27parr).

Das heißt: Wir müssen Einzelaussagen der Bibel immer an der guten Nachricht (Evangelium) von der Menschenliebe Gottes prüfen, wie sie in Jesus Christus greifbar geworden ist. Sein Umgang mit den Menschen war bestimmt von der unbedingten und unverlierbaren Liebe Gottes zu jedem Menschen, so wie dieser Mensch gerade ist. Diese Liebe geht allem anderen voraus, auch jedem ethischen Anspruch, wie Römer 5,8 formuliert:

„Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ 

Römer 5,8

Diese Liebe gilt im Übrigen auch denen, die Angst davor haben, sich mit einer offenen Haltung gegenüber Homosexualität vielleicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen.

Exkurs: Zur Zweigeschlechtlichkeit in den Schöpfungsgeschichten

Für viele ist die Zweigeschlechtlichkeit der Schöpfung („Schöpfungsordnung“) eines der wichtigsten Argumente gegen eine offene Haltung zur Homosexualität. Tatsächlich setzt die Bibel voraus, dass die Zweigeschlechtlichkeit den Grund der Lebenserhaltung ausmacht. Es braucht männlich und weiblich zur Fortpflanzung. Diese grundlegende Einsicht spielt auch für die Frage nach Homosexualität eine Rolle. Sie lässt sich allerdings nicht so eindeutig übertragen, wie es auf den ersten Blick scheint. Das hat mindestens zwei Gründe: 

  1. Der göttliche Auftrag zu Vermehrung gilt nicht einzelnen Individuen, sondern der Menschheit als Ganzer. „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) ist zur ganzen Menschheit gesagt, nicht zu einzelnen Menschen bzw. einem Paar. Das hebräische Wort für Menschheit lautet „adám“, man hört schon den Eigennamen „Adam“. Aber erst ab Kapitel drei wird „adám“ als Eigenname eines individuellen Menschen benutzt – vorher ist immer die ganze Gattung „Mensch“ gemeint. Aus dem Auftrag zur Fortpflanzung lässt sich daher kein Verbot von Lebensformen ableiten, in denen eine Fortpflanzung nicht ohne weiteres möglich ist.[ix] Würde man das tun und ein Verbot daraus ableiten, müsste jede kinderlose Ehe abzulehnen sein, auch die heterosexuelle … und genau genommen jede Lebensform, die nicht auf Fortpflanzung aus ist. 
  2. Gott schuf den Menschen nicht „als Mann und Frau“ (Gen 1,27) – diese Übersetzung ist schlicht falsch – sondern „männlich und weiblich“. Im Hebräischen stehen hier zwei Adjektive. Mann und Frau würde immer auch die ungleiche soziale Rolle meinen, die ich schon angesprochen habe. Die ist in der Urgeschichte aber ausdrücklich eine Folge des Sündenfalls und damit gerade nicht schöpfungsgemäß. Zudem ist vom Text der Schöpfungserzählung her klar, dass nicht alles genannt wird, was und wie Gott geschaffen hat. Weiblich und männlich sind zwei Pole, zwischen denen sich das Leben mit allerlei Variationen abspielt. Genauso wie Licht und Dunkelheit, Land und Meer – aber natürlich sind auch alle Zwischenstufen von Gott gewollt und geschaffen: Die Dämmerung und der Halbschatten, wo man nicht genau weiß, ob es hell oder dunkel ist, genauso wie das Wattenmeer und das Sumpfgebiet, wo man nicht genau zwischen Wasser und Land unterscheiden kann. (Vgl. dazu auch die kurzen Ausführungen von Irmtraud Fischer unter https://youtu.be/ ab Minuten 47:03)

Kurzum: Die Zweigeschlechtlichkeit, die ja für die Mehrheit der Weltbevölkerung tatsächlich grundlegend ist, schließt Variationen deshalb nicht einfach aus.

3.2       Ehe und Familie in der Bibel

Beim Blick in die Bibel stellen wir fest: Jesus verliert an keiner Stelle ein Wort über gleichgeschlechtliche Sexualität. Offenbar spielte das Thema für ihn keine Rolle. Wenn es tatsächlich so wichtig wäre, wie es heute manchmal den Anschein macht, hätte er dann nicht darüber geredet? Nun könnte man sagen, dass Homosexualität in der jüdischen Kultur einfach nicht präsent ist, weil ja nach dem Heiligkeitsgesetz verboten (dazu später). Aber jede Regel hat ihre Geschichte – es muss nur das verboten werden, was auch gemacht wird. Homosexuelles Verhalten kommt in allen Zeiten und Kulturen vor, bei Mensch und Tier. Es handelt sich dabei außerdem um einen rein spekulativen „Schluss aus dem Schweigen“ (argumentum ex silencio), der argumentativ nicht überzeugt, weil das Gegenteil genauso wahr sein könnte.

Vielmehr scheint es, dass für den selbst ehelosen Jesus Familie und damit auch Sexualität für den Glauben eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. etwa Mt 12,46ff oder 8,18ff). 

In dieser Linie steht auch Paulus, wenn er seine eigene Ehelosigkeit als Ideal beschreibt (vgl. 1Kor 7). Die Ehe von Mann und Frau ist für ihn eine Notlösung zum Schutz vor den eigenen Trieben. Christlicher Glaube überwindet nach Paulus Fragen der Geschlechtlichkeit: 

„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“

Galater 3,28

In Christus – und damit auch in seiner Gemeinde – spielt die Unterscheidung von männlich und weiblich tendenziell keine Rolle mehr. Was bedeutet das für unseren Blick auf Homosexualität?

Wir müssten uns genauer anschauen, wie in der Bibel von Ehe und Familie gesprochen wird. Es reicht aber zunächst wahrzunehmen: Die Bibel kennt mehr als die klassische Verbindung von einem Mann und einer Frau. Sie regelt zum Beispiel im fünften Mosebuch (Dtn 21,15), was passiert, wenn ein Mann Nachkommen von zwei Frauen hat – ohne das zu kritisieren. Wir kennen viele weitere Geschichten von Ehen zwischen mehr als zwei Partner:innen. Die Bibel kann außerdem die Ehe innerhalb der eigenen Großfamilie („Endogamie“) als Ideal beschreiben (Abraham: Gen 11,29; Gen 20,12; Isaak: Gen 24; Jakob: Gen 28f), was uns heute eher irritiert. Insgesamt sind biblische Ehen eher nüchterne Zweckgemeinschaften als große Liebesgeschichten. 

All das müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir allzu leichtfertig auf die heterosexuelle Ehe als christliches Ideal schwören und daraus eine Abwertung anderer Lebensformen ableiten: Die Bibel kennt hier viele weitere Formen und für Jesus und besonders Paulus ist sie nicht das Ideal, sondern die beste Notlösung.

3.3      Einzelne Stellen

Aber nun zur Frage nach den konkreten Bibeltexten. Die vermeintliche Eindeutigkeit der Verse ist für manche Christ:innen die große Hemmschwelle, die eine offene Haltung gegenüber Homosexualität verhindert. Denn wer eine ablehnende Haltung einnimmt, ist ja in der Regel kein böser Mensch, sondern fühlt sich dem Wortlaut der Bibel sehr intensiv verpflichtet. Da muss man aus meiner Sicht daher immer wieder ansetzen und zeigen: So eindeutig ist es bei weitem nicht.

Es gibt insgesamt nur fünf Stellen, die dafür überhaupt infrage kommen, nämlich Levitikus 18 und 20 im Alten Testament sowie Verse aus Römer 1, 1. Korinther 6 und 1. Timotheus 1 im Neuen Testament. Deutlich wird: Alle genannten Stellen sprechen ablehnend über gleichgeschlechtliche Sexualkontakte. Es geht nicht darum, das zu ignorieren oder umzudeuten. Aber es geht um die Frage, ob diese Stellen heute dasselbe bedeuten können wie damals. Wir müssen prüfen, ob sie vor dem Hintergrund ihrer Kultur tatsächlich das betreffen, worum es heute geht: eine gleichberechtigte homosexuelle Partnerschaft auf Augenhöhe. Wir müssen die Texte deshalb in ihrem historischen Kontext wahrnehmen. Wie konnten sie von denen verstanden werden, die sie geschrieben und zuerst gelesen haben? Worauf spielen sie an? Welche sozialen Rollen stehen im Hintergrund? Erst wenn wir das in etwa aufgedeckt haben, können wir die Texte in ihrem ursprünglichen Sinn ernstnehmen und nach ihrer Bedeutung für heute fragen.

3.3.1       Zu 3. Mose 18,22 und 20,13

Levitikus 18,22

Lutherbibel
Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.

Martin Buber
Einem Männlichen sollst du nicht beiliegen in Weibs Beilager, Greuel ists.

„Wörtlich“ (SR)
Und zu Männlichem sollst du dich nicht niederlegen im Bett/Beischlaf einer Frau, das ist [etwas] Abscheuliches.

Elberfelder
Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer Frau liegt: ein Greuel ist es.

Gute Nachricht Bibel
Kein Mann darf mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehren; denn das verabscheue ich.

Einheitsübersetzung
Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel.


Levitikus 20,13

Lutherbibel
Wenn jemand bei einem Manne schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie.

Martin Buber
Ein Mann, der einem Männlichen beiliegt in Weibs Beilager, Greuel haben beide getan, sterben müssen sie, sterben, — ihre Blutlast ist auf ihnen.

„Wörtlich“ (SR)
Und ein Mann, der bei Männlichem liegt im Bett/Beischlaf einer Frau – Abscheuliches haben beide getan. Sie müssen sterben, sterben – ihr Blut [ist] an ihnen.

Elberfelder
Und wenn ein Mann bei einem Mann liegt, wie man bei einer Frau liegt, [dann] haben beide einen Greuel verübt. Sie müssen getötet werden, ihr Blut ist auf ihnen.

Gute Nachricht Bibel
Wenn ein Mann mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehrt, haben sich beide auf abscheuliche Weise vergangen. Sie müssen getötet werden; ihr Blut findet keinen Rächer.

Einheitsübersetzung
Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen.

Die ersten beiden Stellen stammen aus dem sogenannten „Heiligkeitsgesetz“ in Levitikus (drittes Mosebuch). Einige Punkte sind hier besonders zu beleuchten:

  1. Man muss hier schon aus anatomischen Gründen sehr viel interpretieren. Die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern machen eine wörtliche Übertragung unmöglich. Zudem ist unklar, was mit „im Bett einer Frau“ überhaupt gemeint ist.
  2. Es fällt auf, dass hier nur Männer angesprochen sind. Da Frauen an anderer Stelle im selben Kontext ausdrücklich erwähnt werden, sind sie hier nicht mitgemeint. Um allgemeine Aussagen zur männlichen und weiblichen Homosexualität aus diesen Versen abzuleiten, müsste man also weit über den Wortlaut der Bibel hinausgehen.
  3. Diese Texte gehören zur Profilbeschreibung des antiken Volkes Israel. Schon das allein macht ihre unmittelbare Übertragung für uns schwierig. Wollte man das einfach übernehmen, wäre uns sonst beispielsweise auch verboten, Kleidung aus zwei verschiedenen Stoffen zu tragen (Lev 19,19). Auch Frisörbesuche und die regelmäßige Bartrasur wären verboten (Lev 19,27). Das Argument, die Verbote seien deshalb weiterhin gültig, weil sie im Neuen Testament aufgegriffen werden, lässt sich nicht durchhalten. Mit derselben Argumentation müssten wir z. B. weiterhin für die Sklaverei einstehen, die an vielen Stellen des Neuen Testaments nicht nur aufgegriffen, sondern sogar als religiöse Metapher aufgewertet wird (vgl. etwa Kol 3,22/Eph 6,5–6; 1Tim 6,2).
  4. Die genannten Verse tauchen nur hier auf. Nicht in anderen Rechtstexten und nicht in den Erzählungen, nur in diesem kleinen Ausschnitt israelitischer Literatur-, Kultur- und Rechtsgeschichte, oder eben: nur in diesem kleinen Ausschnitt des Alten Testaments. Man kann also nicht sagen, dass „die Bibel“ gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr verurteilt. Es sind kleine Teile der Bibel, nicht mehr und nicht weniger.
  5. Diese Verse gehören in ein antikes kulturelles Umfeld. Dabei ist an das schon erwähnte Machtgefüge zu erinnern: Männer, die den weiblichen Part beim Geschlechtsakt übernehmen, bringen nach antiker Vorstellung die natürliche Ordnung durcheinander. Auch der dringende wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedarf an Nachwuchs spielt eine wesentliche Rolle: Man braucht Kinder, um als Großfamilie zu Überleben. Bei deutlich höherer Kindersterblichkeit ist eine möglichst effiziente Fortpflanzung wichtig. In der Antike ging man außerdem davon aus, dass das männliche Sperma nur in begrenzter Menge zur Verfügung steht und irgendwann „leer“ ist, dementsprechend sorgsam ist damit umzugehen. Auf diesen Fortpflanzungsaspekt deuten auch die Verse im Kontext von Lev 18, die allesamt als Warnung vor dem Verlust von Nachkommen gedeutet werden können (vgl. Hieke). Darauf zielt auch die Tatfolge in Lev 18,30, die keine „Todesstrafe“ meint, sondern ein „Gottesurteil“: Wer auf Nachwuchs verzichtet, wird über kurz oder lang aus dem Volk verschwinden.*

* Hinweis: In einer früheren Version ging ich davon aus, dass es sich in Lev 18,30 um eine Anordnung der Todesstrafe handelt und dies als weiteres Beispiel für den kulturellen Abstand zu unserer Gegenwart angeführt. Dieses Argument erscheint mir jedoch nicht mehr tragfähig.

Betrachtet man die beiden Stellen also genauer und in ihrem Kontext, sind sie viel weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick scheinen. Sie werden uns fremd, weil wir unter völlig anderen Voraussetzungen leben. So eindeutig, wie sie auf den ersten Blick aussehen, sind sie gar nicht.

3.3.2       Zu 1. Korinther 6,9f und 1. Timotheus 1,8–10

1. Korinther 6,9f

Lutherbibel
9 Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder 10 noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben. 11 Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.

„Wörtlich“ (SR)
Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte Gottes Königreich nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Weichlinge, noch „männlichliegende“ [evtl. Anspielung auf 3. Mo 18/20], noch Diebe, noch Habgierige, noch Trunkenbolde, noch Verleumder, noch Räuber werden das Königreich Gottes erben. Und das waren manche [von euch]. Aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid gereinigt, aber ihr seid gerechtfertigt im Namen des Herrn Jesus Christus und im Geist unseres Gottes.

Elberfelder
9 Oder wißt ihr nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige, noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Wollüstlinge, noch Knabenschänder, 10 noch Diebe, noch Habsüchtige, noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes erben. 11 Und das sind manche von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden durch den Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes.

Einheitsübersetzung
9 Wisst ihr denn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, 10 noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben. 11 Und solche gab es unter euch. Aber ihr seid rein gewaschen, seid geheiligt, seid gerecht geworden im Namen Jesu Christi, des Herrn, und im Geist unseres Gottes.


1. Timotheus 1,8–10

Lutherbibel
8 Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn es jemand recht gebraucht, 9 weil er weiß, dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, sondern den Ungerechten und Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ruchlosen, den Vatermördern und Muttermördern, den Totschlägern, 10 den Unzüchtigen, den Knabenschändern, den Menschenhändlern, den Lügnern, den Meineidigen und wenn noch etwas anderes der heilsamen Lehre entgegensteht, 11 nach dem Evangelium von der Herrlichkeit des seligen Gottes, das mir anvertraut ist.

„Wörtlich“ (SR)
Aber wir wissen, dass das Gesetz gut ist, wenn jemand es recht anwendet, dies wissend: dem Gerechten ist das Gesetz nicht bestimmt, aber den Ungesetzlichen und Aufsässigen, den Gottlosen, Sündern, Unheiligen und Profanen, Vatermördern und Muttermördern, Mördern, Unzüchtigen, „Männlichliegenden“, Menschenhändlern, Lügnern, Meineidigen, und was immer der gesunden Unterweisung entgegensteht gemäß dem Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes, das mir [betont] anvertraut ist.

Elberfelder
8 Wir wissen aber, daß das Gesetz gut ist, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht, 9 indem er dies weiß, daß für einen Gerechten das Gesetz nicht bestimmt ist, sondern für Gesetzlose und Widerspenstige, für Gottlose und Sünder, für Heillose und Unheilige, Vatermörder und Muttermörder, Mörder, 10 Unzüchtige, Knabenschänder, Menschenräuber, Lügner, Meineidige, und wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegensteht, 11 nach dem Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes, das mir anvertraut worden ist.

Einheitsübersetzung
8 Wir wissen: Das Gesetz ist gut, wenn man es im Sinn des Gesetzes anwendet 9 und bedenkt, dass das Gesetz nicht für den Gerechten bestimmt ist, sondern für Gesetzlose und Ungehorsame, für Gottlose und Sünder, für Menschen ohne Glauben und Ehrfurcht, für solche, die Vater oder Mutter töten, für Mörder, 10 Unzüchtige, Knabenschänder, Menschenhändler, für Leute, die lügen und Meineide schwören und all das tun, was gegen die gesunde Lehre verstößt.

Die Stellen aus dem Neuen Testament haben eine Sache gemeinsam: Nirgends ist Homosexualität selbst das Thema. Homosexuelle Handlungen sind in allen drei Fällen lediglich Nebensache. Homosexuelles Verhalten wird als Beispiel herangezogen, ist aber nie das eigentliche Thema. 

In 1Kor 6 begegnen zwei ungewöhnliche Begriffe, die nicht leicht zu übersetzen sind. Paulus spricht hier über eine Reihe von Personen, die das Reich Gottes nicht erben werden. μαλακοί/malakoí (Luther: „Lustknaben“) meint in etwa „weichlich“. Es ist bei diesem Wort nicht einmal sicher, ob Sexualität hier überhaupt eine Rolle spielt, geschweige denn Homosexualität. Vielmehr ist wieder auf die gesellschaftliche Stellung angespielt: „μαλακός/malakós“ bezeichnet einen Mann, der nicht seiner vermeintlich natürlichen aktiven, übergeordneten Rolle nachkommt.

Der zweite Begriff taucht zusätzlich auch in 1Tim 1,10 auf, ebenfalls in einem sogenannten „Lasterkatalog“. Er lautet ἀρσενοκοῖται/arsenokoitai (Luther: „Knabenschänder“) und ist vermutlich eine Wortneuschöpfung von Paulus, die auf die griechische Übersetzung der beiden AT-Stellen anspielt. Es lässt sich nicht eindeutig übersetzen und bedeutet ungefähr: „männlichliegend“. Der Begriff ist aber ansonsten in der damaligen Welt weitgehend unbekannt. Außerdem sahen wir, dass schon die Ursprungsstelle nicht leicht zu interpretieren ist. Die bloße Andeutung hier hat also mit allerlei Schwierigkeiten zu kämpfen. 

Möglich und wahrscheinlich ist, dass an beiden Stellen mit den Begriffen das erwähnte Machtgefüge angesprochen ist: Es geht um Männer, die sich sexuell in die Position von Frauen begeben oder andere dazu nötigen. Sie bringen damit die vermeintlich natürliche Hierarchie zwischen Männern und Frauen durcheinander. Damit übernehmen die Autoren den Geist ihrer damaligen gesellschaftlichen Zeit. Beide Stellen sind dann vielmehr Aussagen über die Bedeutung der sozialen Stellung der Geschlechter als über homosexuelles Verhalten. Von einer gleichberechtigten homosexuellen Beziehung ist an beiden Stellen keine Rede, das deuten auch die Lutherübersetzungen „Lustknabe“ und „Knabenschänder“ an. Wieder sind übrigens nur Männer im Blick.

Wir müssen uns auch bewusst machen, in welchem unmittelbaren Kontext die Begriffe fallen. Sie sind Teil sogenannter Lasterkataloge. Wollten wir sie tatsächlich als allgemeingültige Aussagen über alle homosexuellen Männer verstehen, müssten wir wohl alle homosexuellen Männer in eine Reihe mit denen stellen, die hier sonst genannt sind. Im Lutherwortlaut wären homosexuelle Männer dann per se zu vergleichen mit Unzüchtigen, Götzendienern, Ehebrechern, Dieben, Habgierigen, Trunkenbolden, Lästerern, Räubern (1Kor 6); alle homosexuellen Männer, die Sie persönlich kennen, müssten Sie in einem Atemzug nennen mit Ungerechten, Ungehorsamen, Gottlosen, Sündern, Unheiligen, Ruchlosen, Vatermördern, Muttermördern, Totschlägern, Unzüchtigen, Menschenhändlern, Lügnern, Meineidigen (1Tim 1). Wollen Sie Ihre homosexuellen Geschwister wirklich in diese Reihe stellen? 

Es gilt hier das gleiche wie bei der Todesstrafe: Wir können nicht einen Teil des Verses hochhalten und über den anderen hinweggehen. Aber wir können die Aussagen als das verstehen, was sie sind: Beispiele aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Für Paulus und seine Umwelt sind sie vermutlich passend und verständlich. Aber es sind eben nur Beispiele, die sich mit der Zeit ändern dürfen – sie sind nicht das, worum es entscheidend geht.

3.3.3       Zu Römer 1,23–27

Lutherbibel
21 Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. 22 Die sich für Weise hielten, sind zu Narren geworden 23 und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere. 24 Darum hat Gott sie in den Begierden ihrer Herzen dahingegeben in die Unreinheit, sodass sie ihre Leiber selbst entehren. 25 Sie haben Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt und das Geschöpf verehrt und ihm gedient statt dem Schöpfer, der gelobt ist in Ewigkeit. Amen. 26 Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn bei ihnen haben Frauen den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; 27 desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Männer mit Männern Schande über sich gebracht und den Lohn für ihre Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen.

Einheitsübersetzung
21 Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. 22 Sie behaupteten, weise zu sein, und wurden zu Toren. 23 Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bildern, die einen vergänglichen Menschen und fliegende, vierfüßige und kriechende Tiere darstellen. 24 Darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, sodass sie ihren Leib durch ihr eigenes Tun entehrten. 25 Sie vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers — gepriesen ist er in Ewigkeit. Amen. 26 Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; 27 ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung.

Elberfelder
21 weil sie Gott kannten, ihn aber weder als Gott verherrlichten noch ihm Dank darbrachten, sondern in ihren Überlegungen in Torheit verfielen und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde. 22 Indem sie sich für Weise ausgaben, sind sie zu Narren geworden 23 und haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes vom verweslichen Menschen und von Vögeln und von vierfüßigen und kriechenden Tieren. 24 Darum hat Gott sie dahingegeben in den Begierden ihrer Herzen in Unreinheit, ihre Leiber untereinander zu schänden, 25 sie, welche die Wahrheit Gottes in die Lüge verwandelt und dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht haben statt dem Schöpfer, der gepriesen ist in Ewigkeit. Amen. 26 Deswegen hat Gott sie dahingegeben in schändliche Leidenschaften. Denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr in den unnatürlichen verwandelt, 27 und ebenso haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen, sind in ihrer Wollust zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande trieben, und empfingen den gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst.

Die wichtigste Stelle zum Thema ist Römer 1, wo Paulus über eine „Vertauschung des natürlichen Verkehrs“ spricht. Auch hier spielt die vermeintlich „natürliche“ Ordnung die entscheidende Rolle. Paulus versteht hier homosexuellen Geschlechtsverkehr – von Beziehung ist keine Rede – als ein Symptom von Gottlosigkeit. Allein darüber sollte man schon stolpern, denn wir reden ja gerade über homosexuelle Christinnen und Christen, die ihren Platz in der Gemeinde suchen. Paulus kennt so etwas nicht. Wer aber homosexuelle Glaubende und ihre leidvollen Gemeindegeschichten kennt, dem werden die Worte von Paulus hier fremd und es wird schwierig, seiner Argumentation zu folgen, denn homosexuelle Menschen sind nicht gottlos, nur weil sie homosexuell sind!

Für Paulus ist homosexuelle Praxis wieder nur ein Beispiel für seine theologische Argumentation. Sein eigentliches Thema ist, dass Menschen sich im Leben an anderen Geschöpfen orientieren, nicht mehr am Schöpfer selbst. Vielleicht steht der Mehrungsauftrag aus der Urgeschichte bei diesem Beispiel im Hintergrund: Homosexueller Geschlechtsverkehr bringt kein neues Leben schöpferisch hervor, sondern ist – in dieser Logik! – rein auf sich selbst bezogen.

Aber was meint Paulus mit „natürlich“ bzw. „widernatürlich“? Zunächst einmal ist ja interessant zu erwähnen, dass Paulus mit den gleichen Worten auch lange Haare bei Männern „schändlich“ und nicht „natürlich“ findet (1. Korinther 11,13f). Nur mal am Rande gefragt: Kennen Sie Jesusdarstellungen, auf denen er kurze Haare hat? Ich nicht.

Viel wichtiger als dieser Schmunzeln erregende Hinweis ist jedoch Folgendes: Paulus scheint offensichtlich nicht über Menschen zu sprechen, die eine gegebene homosexuelle Orientierung ausleben. Vielmehr stehen ihm mit sehr großer Wahrscheinlichkeit heterosexuelle Menschen vor Augen, die sich auf homosexuelle Praktiken eingelassen haben. Das heißt, Paulus spricht über heterosexuelle Menschen, die ihre „eigentliche“ heterosexuelle Veranlagung verleugnen. Denn für Paulus (wie für die ganze Antike) sind alle Menschen im Grunde heterosexuell, eine natürliche homosexuelle Veranlagung kennt er genauso wenig wie seine Umwelt. 

Das lässt sich aber mit heutigen Erkenntnissen nicht mehr in Einklang bringen. Homosexuelle sind eben nicht Menschen, die „eigentlich“ im Kern heterosexuell sind, sondern man erkennt heute ihre homosexuelle Veranlagung als vorgegeben an. Die schwerwiegenden gesundheitlichen Gefahren sogenannter Konversionstherapien (seit 2020 daher teilweise verboten) und die Lebenserfahrung der wohl allermeisten Homosexuellen belegen das eindrücklich. Ausnahmen gibt es wie immer auch hier, und sie sind in ihrer biografischen Individualität unbedingt zu respektieren – aber sie dürfen nicht zur Regel gemacht werden. Auch hier lesen wir die Texte also unter ganz anderen Voraussetzungen, als sie geschrieben wurden.

Es wird immer wieder gesagt, Paulus habe vermutlich auch homosexuelle Partnerschaften gekannt, weil es sie in seiner Umwelt gab. Allerdings ist das erstens wieder ein Schluss aus dem Schweigen (siehe oben), weil nirgendwo in der Bibel über homosexuelle Beziehung gesprochen wird, ausschließlich über homosexuellen Geschlechtsverkehr. Zweitens sind die Umstände der Antike nicht völlig aufzuklären, aber mögliche Hinweise auf homosexuelle Partnerschaft, wie wir sie heute verstehen, sind sehr selten und nicht eindeutig (vgl. etwa die Rede des Aristophanes in Platons „Symposium“). Auch darf man den Begriff „Begierde“ (ἐπιθυμία, Röm 1,24) nicht im Sinne einer leidenschaftlichen Beziehung als positiv missverstehen. Er bezeichnet vielmehr ein gewissermaßen krankhaftes Verlangen, das negativ verstanden und allgemein verurteilt wird – für Paulus also hierher passt. Mit partnerschaftlicher Begierde hat das wenig bis nichts zu tun.

3.3.4 Zwischenfazit

Wir konnten sehen: Die wenigen vorhandenen Stellen im Alten und Neuen Testament lehnen homosexuelle Handlungen ab. Wir konnten aber auch sehen, dass sie bei genauer Betrachtung nicht völlig eindeutig sind. Zudem bilden sie nur einen sehr kleinen Teil der Bibel ab – und vor allem auch nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was wir heute unter homosexueller Partnerschaft verstehen. Auch eine heterosexuelle Partnerschaft wird niemand von uns auf den Geschlechtsakt reduzieren wollen. Die Frage ist, ob man von diesem Bruchteil auf das ganze schließen kann. 

Außerdem bauen die biblischen Aussagen auf Voraussetzungen auf, die wir heute mit guten Gründen nicht mehr teilen. Das betrifft vor allem Fragen von Machtgefällen und Hierarchien zwischen den Geschlechtern, dem Stellenwert der Fortpflanzung und Kenntnisse über die Grundlagen homosexueller Veranlagung. 

Es geht nicht darum, die Stellen wegzuerklären, sondern sie vor dem Hintergrund ihrer Entstehung zu verstehen und zu prüfen, ob wir sie unter veränderten Bedingungen nicht anders bewerten müssen, zumal es sich gerade im Neuen Testament nur um Beispiele handelt.

3.4      Gleichgeschlechtliche Partnerschaft – Orientierungen in der Bibel

Die Herausforderung für unsere Gemeinden ist, einerseits die abwertenden Stellen der Bibel zu bestimmten homosexuellen Handlungen wahrzunehmen, diese aber historisch einzuordnen und vor allem: ihr Gewicht im Licht der göttlichen Liebe zu beurteilen.

Wer darin irgendwann vielleicht zu einer offeneren Haltung kommt, lässt die Bibel ja keinesfalls hinter sich. Denn man wird sich die Frage stellen, wie gleichgeschlechtliche Partnerschaft dennoch „biblisch“ gestaltet werden kann. Und natürlich bieten die Aussagen für verschiedengeschlechtliche Partnerschaften in gleicher Weise auch Orientierung für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Das umfasst Werte wie Verbindlichkeit, Treue, Hingabe, Fürsorge – Dinge, die uns auch für heterosexuelle Beziehungen wichtig sind. 

Nebenbei sei erwähnt: Enthaltsamkeit, wie sie zum Beispiel in der FeG-Orientierungshilfe gefordert wird, ist nach Paulus nichts, was man von jemandem verlangen könne. Es handelt sich dabei ausdrücklich um eine Gottesgabe (vgl. 1. Korinther 7). Ein möglicher Hinweis darauf, dass christliches Leben in sexueller Hinsicht nun einmal auch Verzicht aus Gehorsam bedeute, geht hier also in die Irre. Insgesamt hat Paulus nämlich ein positives Verhältnis zur Sexualität. Wo die Gabe der Enthaltsamkeit nicht gegeben ist, plädiert er daür, das eigene sexuelle Begehren durch eine geregelte Verbindung zu ordnen und es ausdrücklich zu gestalten. Was für Paulus aufgrund seiner Voraussetzungen nur heterosexuelle Partnerschaft betrifft, ließe sich jedoch ohne Weiteres auf moderne, gleichberechtigte homosexuelle Beziehungen übertragen: Es geht nicht darum, sie zu verbieten, sondern sie zu gestalten. Ganz im Sinne des paulinischen Mottos, das übrigens unmittelbar auf die eben besprochenen Stelle aus dem 1. Korintherbrief folgt: 

„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“

1. Korinther 6,12

Gleichgeschlechtliche Partnerschaft muss nicht verboten werden, sondern sie will lebensdienlich gestaltet werden – das geht auch mit der Bibel.

Exkurs: David und Jonatan / Rut und Noomi

Wer einen konkreteren biblischen Anhaltspunkt sucht, wird im Alten Testament fündig. Man kann auf zwei Erzählungen hinweisen, die auf überraschende Weise gleichgeschlechtliche Partnerschaft erzählen. Man kann sicher nicht sagen, dass diese Geschichten historisch von homosexuellen Beziehungen sprechen, das würde zu weit gehen. Aber sie öffnen die reiche Welt der Bibel für einen Blick über den heterosexuellen Tellerrand und können als Identifikationsgeschichten dienen für Menschen, die sich in ihrem Leben und mit ihrer homosexuellen Identität an der Bibel orientieren.

Die bekanntere Erzählung ist die von David und Jonatan. (Vgl. dazu etwa https://www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/148145/28-03-2018) Wir hören von zwei Männern, die ungewöhnlich eng befreundet sind. Immer wieder tauchen in der Geschichte Beschreibungen auf, die hellhörig machen und Raum für Interpretation bieten. Die Erzählung gipfelt in dem Spitzensatz: 

„Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonatan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist.“

2. Samuel 2,16

Noch einmal sei erwähnt: Mir geht es hier nicht darum, aus den beiden ein schwules Pärchen zu machen, sondern zu zeigen: Die Bibel ist viel offener gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe, als es auf den ersten Blick scheint.

Die zweite Geschichte ist die von Noomi und Rut, die (nach Rut 4,17) übrigens als Uroma von David gilt. Ich wette, den Ausgangspunkt dieser Geschichte kennen viele aus manch kirchlicher Trauung:

„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.“

Rut 1,16–17

Hier spricht eine Frau zur anderen und es ist doch irgendwie bezeichnend, dass gerade diese Worte es bis in das Versprechen geschafft haben, dass sich Paare bei ihrer Trauung geben – „bis dass der Tod uns scheidet“. Und diese Geschichte endet mit einer verblüffenden Feststellung: Nachdem Rut auf umständliche und fast eher zweckmäßige Weise Boas geheiratet hat, bekommt sie von ihm einen Sohn. Daraufhin heißt es:

„Und ihre Nachbarinnen gaben ihm einen Namen und sprachen: 
Noomi ist ein Sohn geboren …“

Rut 4,17

Noomi! Die Nachbarinnen deuten Ruts Kind als das von Noomi, oder eben anders gesagt: Als das Kind von Rut und Noomi! Wieder sei gesagt: Dadurch wird aus Rut und Noomi kein lesbisches Paar im modernen Sinn, aber die Erzählung ist sehr offen, um Ähnlichkeiten mit einer gleichgeschlechtlichen Beziehung darin zu finden. 

Die offenen Stellen in diesen Geschichten halten einen Platz frei für die homosexuelle Minderheit in unseren Gemeinden. Und wir erinnern uns: Gott ist ein Gott, der auf der Seite der Minderheiten steht!

Was bringt es, diese Geschichten anzuführen? Es zeigt zum einen, dass die Bibel als lebendiges Wort Gottes beweglich ist, keine ein für alle Mal fertig gedeutete und verstandene Größe. Die Bibel lebt, ihre Geschichten und Gedanken bleiben durch die Zeiten und unter verschiedenen Umständen aktuell und anschlussfähig für sehr verschiedene Lebenssituationen. Das ist ihr Sinn als Wort Gottes: Sie soll immer wieder neu die Menschenfreundlichkeit Gottes ins Leben rufen.

Und zum anderen zeigen diese beiden Geschichten, wie gleichgeschlechtliche Beziehungen in einer biblischen Orientierung gestaltet werden können und welche Werte man aus der Bibel auch für sie ableiten könnte: gegenseitige Treue, Verlässlichkeit und eine selbstlose Hingabe, die auch für verschiedengeschlechtliche Beziehungen vorbildhaft sein könnte. Die Kraft des Evangeliums ist eine lebensgestaltende Kraft.

4       Zusammenfassung

Am Ende dieses Textes werden Sie womöglich eine eindeutige Aussage vermissen – dann hätte er sein Ziel ungefähr erreicht: Denn die Aussagen der Bibel, die Erforschung ihrer Umwelt und vor allem die Frage nach ihrer Bedeutung für die theologische Beurteilung der Homosexualität ist nicht einfach eindeutig. Wer das behauptet – ob in ablehnender oder offener Haltung der Homosexualität gegenüber – macht es sich zu einfach. 

Dennoch denke ich, dass die biblischen Texte nicht über das reden, wonach wir heute fragen, unter anderem weil sie den Menschen als von Grund auf heterosexuell verstehen.

Eine offene theologische Haltung zur Homosexualität liegt allerdings nicht im Buchstaben von Einzelaussagen begründet, sondern entspringt dem Geist dessen, wie christlicher Glaube insgesamt vom Menschen und vom Leben spricht: mit Wertschätzung, in Annahme, zur Freiheit. Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes, die „sehr gut“ sind, wie sie sind. 

Der Weg zu einer offenen Haltung beginnt damit, den Menschen und Geschichten zu begegnen, über die wir heute reden – das kommt hier leider zu kurz. Daher beginnt der Weg an dieser Stelle damit, die Unschärfen und uneindeutigen Signale der Bibel wahrzunehmen. Er führt am Ende vielleicht dahin, worum es dem christlichen Glauben aus meiner Sicht immer geht: Dass Gott sich Menschen liebevoll zuwendet, unbedingt und unabhängig von ihrer Lebensführung. Die Reformation nannte das „Rechtfertigung“: Gott verlangt nicht die Rechtschaffenheit des Menschen, sondern verschafft allen Menschen ihr Recht. Die Liebe Gottes zum Menschen gilt, unbedingt und unverlierbar – das hat Jesus Christus selbst mit seinem Leben und Sterben für uns verwirklicht und das sollte der Start- und Zielpunkt aller Überlegungen sein.

Deswegen stehe ich dafür ein, dass die Zuwendung Gottes zu allen Menschen auch in unseren Gemeinden sichtbar gelebt wird. Es passt nicht in mein Bild von Gott, Menschen aufgrund ihrer Sexualität von dieser Liebe auszuschließen. Die Liebe Gottes gilt besonders denen, die viel zu lange ausgegrenzt wurden und noch immer werden. Deswegen träume ich davon, dass Gemeinde sich gegen jede Form der Ausgrenzung stark macht und ihre Türen weit öffnet für alle Menschen, die sich nach dem Gott der Bibel sehnen – egal ob sie hetero- oder homosexuell sind. Denn der christliche Glaube übersteigt solche Unterschiede.

5       Buchtipps

Bewegende Geschichten von homosexuellen und anderen queeren Christinnen und Christen
Sehr ausführliche Untersuchung vieler Argumente, kein „liberaler“ Hintergrund, daher Zugang vielleicht leichter
Ein Plädoyer aus psychologischer Sicht, schafft noch einmal einen anderen hilfreichen Zugang
Lebensgeschichte und persönliche Suche nach Antworten (noch nicht gelesen)

Literatur zur Vertiefung (in Auswahl)

Präsentation

Es gibt zum Vortrag eine Präsentation, die ich auf Anfrage gern zur Verfügung stelle.

Kommentare

2 Antworten zu „Theologisches Basiswissen zur Homosexualität“
  1. Avatar von Ulrich Giesekus

    Wenn ich das richtig sehe, wurden Ehen in der Antike von den Eltern arrangiert, ein Brautpreis gezahlt, und dann wurden die beiden ein Paar — ob sie wollten oder nicht. Von daher wäre die Situation “ein Mann bei einem Mann liegend” praktisch immer eine Handlung, die einen Ehebruch impliziert — und in der damaligen Mentalität die Verschwendung von Samen zu anderen Zwecken als zur Erzeugung von Nachkommen ist Betrug am Brautpreis der Herkunfstfamilie des Mannes, der ja beinhaltet, dass die Frau ihre Erfüllung als Mutter findet. Heute würden wir die arrangierte Ehe und das Kaufen von Frauen, sowie die Reduktion ihres Lebenssinnes als möglichst kinderreiche Mutter, oder ein Recht beider Herkunftsfamilien auf reiche Nachkommenschaft, ablehnen. Damit entfällt ja der gesamte Kontext homosexueller Praxis als Ehebruch, Betrug an der Herkunfstfamilie der Eheleute, und Betrug an der Frau selbst (die ja keinen anderen Mann zur Zeugung in Anspruch nehmen darf). In anderen Worten: wir lehnen alles ab, was die homosexuelle Beziehung für die damalige Sexualethik zum Problem gemacht hat.

    1. Avatar von sebastianrink
      sebastianrink

      “In anderen Worten: wir lehnen alles ab, was die homosexuelle Beziehung für die damalige Sexualethik zum Problem gemacht hat.”

      Das finde ich sehr schön zusammengefasst. Danke für die Ergänzung und Zuspitzung!

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